Rückerstattung und Entschädigung

Die Praxis der „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts am Beispiel der Juden der Stadt Hannover 1945–1965

authored by
Florian Grumblies
supervised by
Claus-Heinrich Füllberg-Stolberg
Abstract

Das Instrument zur „Wiedergutmachung“ nationalsozialistischen Unrechts nach 1945 waren auf alliierten und deutschen Gesetzen beruhende Rechtsverfahren. Über die Rückerstattung sollten die Überlebenden und Angehörigen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung ihr früheres Eigentum und Vermögen vom deutschen Staat oder jenen Privatpersonen zurückerhalten, die es ihnen zwischen 1933 und 1945 entzogen hatten. Mit der auf einem Bundesgesetz beruhenden Entschädigung gewährte der deutsche Staat dagegen Ausgleichszahlungen für vorwiegend immaterielle Schäden nationalsozialistischer Verfolgung, wie Schäden an der Gesundheit oder im beruflichen Fortkommen. Wie die Struktur und Praxis dieser Verfahren aussah und welche rechtlichen Schwierigkeiten die früheren Verfolgten bei der Durchsetzung ihrer Rechte hatten, untersucht die Studie anhand der Fallakten verfolgter Juden aus Hannover. Im Ergebnis zeigt sich, dass die teilweise langjährigen Rückerstattungsverfahren anfangs wesentlich von Auseinandersetzungen über zentrale Rechtsfragen zum Rückerstattungsgesetz geprägt waren. Um die Ansprüche der früheren Verfolgten zu minimieren, nutzten sowohl private Antragsgegner als auch insbesondere der deutsche Staat alle rechtlichen Möglichkeiten. Private Antragsgegner weigerten sich grundsätzlich beispielsweise den Erwerb eines Grundstücks von einem jüdischen Verkäufer als unrechtmäßige Entziehung anzuerkennen. Zu längeren Konflikten mit privaten Antragsgegnern kam es vor allem dann, wenn an Stelle der Zahlung eines Geldbetrags die Herausgabe von Grundstücken und Firmen verlangt wurde, deren Wert sich über die Jahre stark verändert hatte und deren Verlust die wirtschaftliche Existenz des Antragsgegners bedrohte. In der Praxis kam es aber aufgrund der eindeutigen Rechtslage mehrheitlich zu schnellen Vergleichen. In den Entschädigungsverfahren waren die schleppende Bearbeitung der Anträge, die formale Aufteilung der Verfolgungsgeschichte in einzelne Schadenskategorien und das bürokratische Verhalten der Entschädigungsbehörden bei der Beurteilung der Anträge ein regelmäßiger Quell für Kritik der Antragsteller und ihrer Rechtsanwälte. Vor dem Hintergrund einer sich ständig verändernden Rechtssprechung kam es zu Rechtsstreiten vor allem bei den Berufs- und Gesundheitsschäden, bei denen es zumeist um für die Antragsteller existenzielle Renten ging. Bei psychischen Erkrankungen kam beispielsweise noch erschwerend hinzu, dass die ärztlichen Gutachter lange Jahre über den Zusammenhang von Verfolgung und psychischer Krankheit stritten. Sowohl die Entschädigungs- als auch die Rückerstattungsverfahren konnten in ihrer rechtlichen Praxis trotz unbestreitbarer Erfolge und vieler positiver Ansätzen am Ende aber nicht dem moralischen Anspruch einer „Wiedergutmachung“ des nationalsozialistischen Unrechts gerecht werden.

Organisation(s)
Leibniz School of Education
Type
Doctoral thesis
No. of pages
797
Publication date
2021
Publication status
Published
Electronic version(s)
https://doi.org/10.15488/11520 (Access: Open)
 

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