Der Nachhaltigkeitsbegriff: Vielfachkrise und Systemischer Wandel

Von einem seit Jahrhunderten bekannten Prinzip der Forstwirtschaft („Schlage nur so viel Holz, wie auch nachwachsen kann“, Carl von Carlowitz, 1713) hat sich der Begriff der Nachhaltigkeit zu einem Leitbild für die Weltgemeinschaft des 21. Jahrhundert entwickelt:

Im Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung „Unsere gemeinsame Zukunft“ von 1972, auch bekannt als „Brundtland-Bericht“, wurde eine Synthese umweltpolitischer (Natur und Ressourcen schonen) und entwicklungspolitischer (Wohlstand für alle weltweit) Diskurse mit dem Begriff der „Nachhaltigen Entwicklung“ eingeleitet. Diese wurde darin definiert als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“. Neben dieser Idee der INTERgenerationalen Gerechtigkeit enthält der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung auch die Idee der INTRAgenerationalen Gerechtigkeit, d.h., dass Menschen nicht auf Kosten anderer Menschen ihre Bedürfnisse befriedigen dürfen.

Der Begriff der Nachhaltigkeit / Nachhaltigen Entwicklung wird zumeist mit dem Nachhaltigkeitsdreieck operationalisiert, das die Bereiche Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft umfasst, die in wechselseitiger Abhängigkeit verstanden werden, manchmal ergänz durch Politik als zentrales Handlungsfeld.

Die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen (2015) schlüsseln diese Bereiche weiter auf und begründen dabei ein ganzheitliches Nachhaltigkeitsverständnis, das Problemlagen und Lösungen vernetzt in allen Bereichen menschlichen Handels ausmacht. Fragen von Armut und Reichtum, von Ernährungssouveränität, Geschlechtergerechtigkeit, von Frieden oder von guter Bildung sind dabei ebenso wichtiger Teil einer Nachhaltigkeitstransformation, wie der Schutz von Ressourcen, Artenvielfalt und die Begrenzung von Treibhausgasemissionen.

Der Nachhaltigkeitsbegriff weist also weit über rein ökologische Fragen hinaus, auch wenn er im Alltagsgebrauch und im politischen Diskurs immer wieder auf Umweltschutzmaßnahmen reduziert wird. Doch selbst wenn Nachhaltigkeit auf Zielebene verengt als Bekämpfung von Klimawandel und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen verstanden wird, ist es heutzutage unbestreitbar, dass es zur Erreichung dieses Ziels umfassender gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer und kultureller Veränderungen bedarf. Die Vielfachkrise der Moderne, die sich in ökologischen, genau wie in sozialen Verwerfungen zeigt, ist eine gesamtsystemische Krise, die sich nur durch eine gesamtsystemische Transformation wird lösen lassen.

Ein zentrales Konzept zum Verständnis ökologischer Nachhaltigkeit sind die Planetaren Grenzen – als ökologische Leitplanken nachhaltiger Entwicklung, das ursprünglich vom Stockholm Resilience Centre entwickelt wurde. Dabei wird in neun Bereichen erfasst, inwieweit menschliches Handeln die ökologischen Belastungsgrenzen der Erde einhält, bzw. bereits deutlich überschritten hat.

Graphik Planetare Grenzen nachhaltiger Entwicklung Graphik Planetare Grenzen nachhaltiger Entwicklung Graphik Planetare Grenzen nachhaltiger Entwicklung © Julia Blenn / Helmholtz-Klima-Initiative

Der menschliche Einfluss auf die Ökosphäre ist so gewaltig, dass der Begriff "Anthropozän" als Vorschlag einer neuen geochronologischen Epoche entstand und zunehmend verwendet wird, um das moderne Erdzeitalter zu beschreiben, in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist.  Geowissenschaftlich ist der Begriff umstritten, aufgrund seines normativen Charakters, der die Verantwortung des Menschen für die zunehmende Zerstörung des Planeten betont, erfreut er sich dennoch großer Beliebtheit.

So inflationär, wie der Nachhaltigkeitsbegriff benutzt wird, muss er auch kritisch beleuchtet werden:

Der Begriff der Nachhaltigen Entwicklung (wie auch die SDGs) kann in vielerlei Hinsicht als Minimalkonsens der internationalen Staatengemeinschaft und verschiedener gesellschaftlicher Strömungen verstanden werden. Er bildet die Radikalität des nötigen Wandels somit nur teilweise ab – je nachdem, wie er mit Leben gefüllt wird. Es ist im öffentlichen Diskurs kaum umstritten, dass Nachhaltigkeit eine gute und wichtige Sache ist. Derweil leben wir aber weiterhin in einem überwiegend nicht nachhaltig agierenden System und finden harte und kontroverse soziale Kämpfe entlang der Bruchlinien dieses Systems ab. Das Ausmaß der modernen Vielfachkrise wird möglicherweise vom „Wohlfühlbegriff der Nachhaltigkeit“ verschleiert und durch eine festzustellende Fokussierung auf individuelle Verhaltensänderungen und technologische Fortschritte entpolitisiert.

Es gilt im Einzelfall zu betrachten, ob Nachhaltigkeitsbestrebungen eher den Charakter von „Greenwashing“ haben (kosmetische Änderungen kleiner Wirkung, ohne an der nicht-nachhaltigen Grundpraxis etwas zu ändern) oder ob es sich tatsächlich um systemtransformierende Ansätze handelt.

Eine weitere Kritik am Nachhaltigkeitsdiskurs bezieht sich auf den darin ausgemachten Anthropozentrismus: Die Natur soll zwar geschützt werden, das Motiv und die Ansätze des Schützens liegen aber in der Erhaltung der Natur als nutzbare Lebensgrundlage des Menschen. Damit würde die Verzweckung der Natur durch einen von der Natur entfremdeten Menschen, die auch eine kulturelle Grundlage des dominanten nicht-nachhaltigen Wirtschaftssystems ist, reproduziert. Die „Rights of Nature“ Bewegung schreibt der Natur hingegen eigene Rechte zu, als etwas, das unabhängig von Menschen existiert und schützenswert ist.